ADB:Obrecht, Jacob

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Artikel „Obrecht, Jacob“ von Robert Eitner in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 24 (1887), S. 116–119, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Obrecht,_Jacob&oldid=- (Version vom 19. April 2024, 15:41 Uhr UTC)
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Obrecht: Jacob O. (Obret, Obrech, Obreth, Hobrecht), einer der bedeutendsten älteren nord-niederländischen Componisten, über dessen Leben erst in der jüngsten Zeit Documente aufgefunden sind, die einiges Licht auf dessen wunderbare Wechselfälle werfen. Als sein Geburtsort wird von den Einen Utrecht, von Anderen Brügge angegeben, doch besitzen wir bis jetzt noch keine entscheidenden Beweise für die eine oder die andere dieser Städte. Ebenso beruht das Jahr 1430 seiner Geburt nur auf Muthmaßung und ist nach den in neuerer Zeit gefundenen Documenten jedenfalls zu früh angesetzt. Die erstere sichere Nachricht über seinen Aufenthalt und seine Stellung erhalten wir durch Erasmus von Rotterdam, der einst dem Glarean erzählte, daß er als achtjähriger Knabe im Jahre 1475 unter Obrecht’s Leitung Sängerknabe an der Kathedrale in Utrecht gewesen sei, wie Glarean in seinem „Dodecachordon“ p. 256 mittheilt. Durch Houdoy’s Forschungen in den Archiven der Kathedrale zu Cambray (Paris 1880), erfahren wir, daß sich O. von 1483–1485 als Singschuldirector [117] daselbst aufgehalten hat. Straeten im 3. Bde. seiner Musique aux Pays-Bas, p. 181–190, widmet ihm eine ganz besondere Aufmerksamkeit, und wenn auch manche seiner Schlüsse in Folge seiner bekannten sanguinischen Art unhaltbar sind, so sind doch die wortgetreu mitgetheilten Documente von großem Werth. Nach diesen wird O. von 1489–1490 als Priester und „Cantor“ an der Kirche St. Donatien zu Brügge angeführt. Unter Cantor verstand man damals stets einen Sänger, man kann sich nicht verhehlen, daß es als ein befremdlicher Rückschritt erscheint, wenn O., der schon an zwei so bedeutenden Kirchen Capellmeister gewesen war, nun wieder zum Sänger herabsteigt, der unter eines anderen Leitung steht! Er rückt zwar am 22. November 1490 bereits zum Succentor, d. i. zum Sängermeister an derselben Kirche herauf, und es ließe sich also die erstere Stellung etwa als ein Warteposten auffassen. Am 8. August 1491 starb der Sängermeister Jacques Barbireau an der Kathedrale zu Antwerpen, und O. bewarb sich um die Stelle. Nachdem er bis zum Jahre 1492 den Posten probeweise neben einigen anderen Bewerbern bekleidet hatte, wurde er 1492 definitiv ernannt. Hier erst scheint er auf der Glanzstufe seines Lebens angelangt zu sein, denn die alten Rechnungsbücher der Kathedrale erzählen in ihren trockenen und dennoch lehrreichen Zahlen von Festlichkeiten mit fremden Gästen, die zu Ehren des Meisters veranstaltet wurden und zu denen von nah und fern die Verehrer herbeikamen. Bald nach 1492 übernahm er noch an der Capelle „de la Vierge“ die Leitung des Sängerchores und erhielt von derselben Kirche 1494 die Pfründe „Sancti Judoci prima“, die ihm sein Einkommen um ein Bedeutendes erhöhte. Die Rechnungsbücher berichten auch von öfterer Dienstbehinderung Obrecht’s, sodaß sogar mehreremale ein Vertreter ernannt werden mußte; theils hielt ihn Krankheit von den Amtspflichten ab, theils aber auch größere Reisen. Am 31. December des Jahres 1498 befindet er sich wieder in Brügge und wird dort vom Domcapitel zum Capellmeister an der Kathedrale feierlichst ernannt. Wie sich dies mit seiner Stellung in Antwerpen vertrug oder ob er dieselbe zeitweise niederlegte, ist noch in Dunkel gehüllt. Wir wissen nur so viel, daß er bis zum September 1500 sich in Brügge aufhielt und 1501, sowie 1504 wieder in Antwerpen seines Amtes waltete. Ueber die letzten Jahre seines Lebens, sowie über einen Aufenthalt in Italien, der, obwohl von Zeitgenossen bezeugt, sich doch bisher in keiner Weise nachweisen ließ, sind wir jetzt durch Straeten’s Forschertalent auch ins Klare gesetzt. Trotz der Kränklichkeit Obrecht’s, oder vielleicht grade wegen seiner Kränklichkeit, um Heilung zu suchen, ging er 1504 nach Italien und ließ sich am Hofe zu Ferrara nieder, wird sogar in dem hierauf bezüglichen Actenstück „Sänger des Herzogs“ genannt. Hier ereilte ihn ganz plötzlich der Tod, indem er ein Opfer der im Jahre 1505 auftauchenden Pest wurde. Sein Besitzthum fiel dem Krankenhause zu, und die Eintragung darüber in die Register desselben hat uns allein Kunde von seinem Aufenthalte in Italien und von seinem Tode daselbst gegeben. – Wir wollen uns nicht verhehlen, daß in die bis jetzt aufgefundenen Documente noch wenig Zusammenhang zu bringen ist und es sogar fast den Anschein hat, als wenn man es mit zwei Personen zu thun hat, die den gleichen Namen trugen. So führt z. B. Lausens in seiner „Geschiedenis van Thourout“ an, daß 1514 ein Jacob O. zum Propst daselbst ernannt wurde. Straeten will von solchem Actenstück nichts wissen und hält die Nachricht geradezu für einen Irrthum von Lausens, ohne zu bedenken, daß damit doch möglicherweise ein anderer O. gemeint sein könnte, der mit der Musik wahrscheinlich gar nichts zu thun hat. Weit mehr Zweifel erregen dagegen wie schon bemerkt jene Documente, die O. als Singschuldirector in Cambray und Priester und Sänger in Brügge erwähnen und dann nicht minder das zweite Auftauchen Obrecht’s in Brügge als Capellmeister. Die [118] letzten zehn Jahre haben so viel neues Urkundenmaterial ans Tageslicht gefördert, daß wir wohl hoffen dürfen, durch einen glücklichen Fund auch über dieses Meisters Lebensgang noch einmal besser belehrt zu werden. Ueber Obrecht’s Tod besitzen wir übrigens noch eine zweite Beglaubigung, welche die oben mitgetheilte soweit unterstützt, daß das Jahr 1505 unumstößlich feststeht und zugleich die Identität des Antwerpener mit dem zu Ferrara gestorbenen O. so gut wie erwiesen ist. Denn die Pfründe Sancti Judoci wurde nach den Acten aus den Jahren 1506–1507 einem Gerard Gysels zuertheilt, „vacantis per obitum magistri Jacobi Obrecht“, wie es am Schluß derselben heißt.

O. wird zuerst von Gafor in seiner „Practica Musica“ von 1496 als bedeutender Componist erwähnt; spätere Theoretiker des 16. Jahrhunderts schließen sich dem an und feiern ihn als einen der größten Meister, so Sebald Heyden, Glarean, Herm. Finck u. a. O. ist wohl nur zwanzig Jahre jünger anzusetzen als Okeghem, der Altvater der niederländischen Schule. Was Okeghem begann, setzte O. in genialer Weise fort und entwickelte es bis zu hoher Vollendung. Trotz der Herbigkeit die noch in seinem Ausdrucke vorherrscht und die dem Okeghem’schen kaum etwas nachgiebt, ist seine Harmonie doch schon entwickelter und streift manchmal an die Süßigkeit späterer Zeit. Seine Motive sind oft so melodiös und charaktervoll, so kraftvoll und sich mächtig emporschwingend, daß man wohl begreift, warum ihn seine Zeitgenossen so hoch stellten. Die Spitzfindigkeiten der sich entwickelnden niederländischen Schule finden an ihm einen hochbegabten musikalischen Rechenkünstler, der seinen Zeitgenossen durch eine räthselhafte Art die Stimmen zu notiren, indem er einer einzigen Stimme 2, 3 ja 4 verschiedene Taktzeichen vorsetzte oder durch darübergeschriebene räthselhafte Sprüche anzeigte, wie die Stimme zu singen sei, manche harte Nuß zu knacken gab. Um nur einige Beispiele anzuführen, so schreibt O. beim „Patrem“ der „Missa super L’omme armé“ über den Tenor die Verse:

Ne sonites lycanosypaton
Sume in proslambanomenos.

d. h. man muß von einer anderen Note anfangen, als bei dem vorhernotirten Tenor und von dieser Note aus alle Intervallschritte der ersten Notirung gemäß ausführen. In der „Missa super Graecorum“ heißt es beim zweiten „Agnus Dei“: „in parypate hypaton aries vertatur in pisces“, d. h. man singe auch verkehrt, also von rückwärts nach vorn. Beim „Patrem“ derselben Messe: „Digniora sunt priora“, das heißt: vor allem ist die in der Notirung vorkommende Longa zu singen, obschon sie der Reihe nach die 53. Note ist, dann die ihr nachfolgende Pausa longa, dann die Breves, deren drei Stück sind, dann die 23 Semibreves und zuletzt die Minima und dazu kommt noch das veränderte Taktzeichen statt des früheren . Wenn uns nicht die Theoretiker des 16. Jahrhunderts diese Spitzfindigkeiten erklärt und einen Theil der Sätze aufgelöst hätten, so stände es wahrscheinlich heute schlimm mit unserer Kenntniß dieser Tonsätze! Ambros beschäftigt sich in seiner Geschichte der Musik, Bd. 3, S. 61 u. ff. sehr ausführlich mit diesen Ueberschriften und gibt vortreffliche Erklärungen. – O. erlebte noch die Erfindung des Notendruckes mit beweglichen Typen und hatte die Freude eine Anzahl seiner Werke in den ersten prächtigen Drucken Petrucci’s zu sehen. Anfänglich in den Sammelwerken Petrucci’s, die 1501, 1503 und 1505 erschienen und dann in einer selbstständigen Sammlung von fünf Messen, die Petrucci 1503 herausgab. Davon finden sich noch 3 Exemplare: zu Berlin und München vollständige Exemplare in 4 Stimmbüchern und in der wiener Hofbibliothek ohne Baßstimme. Die dritte Messe dieser Sammlung über das weltliche Lied „Fortuna desperata“ hat die Gesellschaft für niederländische Musikgeschichte in Amsterdam 1880 in Partitur herausgegeben. Leider ist dabei die [119] vom Verfasser dieser Biographie hergestellte Partitur in moderne Schlüssel umgeschrieben, die in keiner Weise dem alten Stimmumfang entsprechen. Die Messe bietet viele Schönheiten und ist einfacher und klarer gehalten als viele seiner anderen Werke. Es finden sich melodische Motive darin (die Vorrede obiger Partitur-Ausgabe theilt sie in Noten mit), die so schön und innig sind, daß man die vielfachen Längen und wenig ansprechenden Stellen gern mit in den Kauf nimmt. Außerdem hat neuerdings Otto Kade im 5. Bd. von Ambros’ Musikgeschichte auf S. 20–46 sechs Tonsätze theils aus Drucken, theils aus Manuscripten herausgegeben, die von wunderbarer Klarheit und Weichheit sind, und man ist erstaunt, O. hier auf einem Felde zu finden, von dem man meint, es sei sonst erst in späterer Zeit angebaut, nämlich dem der Lieblichkeit und des melodischen Wohlklanges. Er ist hier ein völlig anderer als in seinen Messen. In letzteren ganz Niederländer, nähert er sich in den kleineren Compositionen, in den Liedern und geistlichen Gesängen, weit mehr dem Charakter der Italiener.