ADB:Anderssen, Adolf

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Artikel „Anderssen, Adolf“ von Max Lange in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 45 (1900), S. 776–779, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Anderssen,_Adolf&oldid=- (Version vom 29. März 2024, 14:03 Uhr UTC)
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Anderssen: Adolf A., verdienstvoller Gymnasiallehrer von großem pädagogischem Geschick, insbesondere für den Unterricht in mathematischen und philosophischen Fächern, sowie in der deutschen Sprache und Litteratur, allgemein bekannt aber durch seine hervorragende Meisterschaft im Schachspiel, welche ihm einen dauernden Weltruf gesichert hat. Geboren am 6. Juli 1818 als Sohn eines Handelsmannes zu Breslau genoß A. von 1830–1838 die Vorbildung auf dem Elisabeth-Gymnasium dieser Stadt, an deren Hochschule er nachher bis 1843 Mathematik und Philosophie studirte, um dann 1845 die Lehrerprüfung zu bestehen. Ein Jahr darauf sehen wir ihn als Candidat des höheren Schulamtes sein amtliches Probejahr bei dem Friedrichs-Gymnasium in Breslau abhalten. Am Schlusse dieses Schuljahres empfing A. ausdrücklich die directoriale Anerkennung, daß er „mit großem Eifer und gutem Erfolge unterrichtet habe“. Doch schon im Sommer 1849 verließ A. seinen amtlichen Wirkungskreis, um eine sehr vortheilhafte Privatstellung als Hauslehrer in Gr. Machmin (Pommern) anzunehmen. Sein Abgang von der Breslauer Lehranstalt wurde wegen der „trefflichen Ergebnisse, die sein Unterricht erzielt hatte“, als ein „wahrer Verlust für die Anstalt“ bezeichnet. Zwei Jahre darauf, Michaelis 1851, kehrte indessen A., der inzwischen auch große Triumphe als Schachmeister hatte im Auslande feiern können, zu dem Friedrichs-Gymnasium zurück, an welchem er, gern wieder aufgenommen, fortan sein ganzes Leben hindurch, und zwar zunächst als Hülfslehrer, dann seit 1853 als ordentlicher (fünfter) Lehrer, seit 1856 als dritter und seit 1867 als zweiter Professor der Anstalt segensreich für die geistige Entwicklung der ihm anvertrauten Schuljugend wirkte. Jederzeit sein Lehreransehen durch sachlichen Ernst und mit fester Energie sich wahrend verstand er es, wie kaum ein Anderer, seine Schüler je nach ihrem Eigenwesen zu behandeln [777] und den Unterricht durch praktische Veranschaulichung zu beleben, ja mitunter durch humoristisch derbe Anregungen zu würzen. So kam es, daß A. bei seinen Schülern früh den Ruf eines zwar strengen aber auch hochverehrten Schulgebieters, eines gefürchteten aber auch geliebten Lehrers, von dem man „stets etwas lernen“ könne, sich errang. Zahlreiche rührende Zeichen dankbarer Anhänglichkeit seiner Schüler haben die Erfolge seiner pädagogischen Tüchtigkeit offenbart. Den reichsten Anlaß zu solchen Liebesbeweisen bot drei Jahre vor seinem Tode um Michaelis 1876 die Feier des 25jährigen Amtsjubiläums, zu welcher dem verehrten Lehrer A. außer sonstigen Ehrenbezeigungen auch ein großes ungewöhnlich prachtvoll ausgestattetes Album, angefüllt mit 70–80 Photographien seiner hervorragendsten Schüler, überreicht wurde. Neben seiner amtlichen Lehrthätigkeit fand A. aber auch, abgesehen von Privatstunden, die er an bevorzugte Schüler ertheilte, noch Muße für schriftstellerische Arbeiten zu einzelnen Schulprogrammen, z. B. über den Nachweis der Unmöglichkeit allgemeiner Auflösung der Gleichungen höheren Grades u. dgl.; ebenso übernahm er wiederholt Gelegenheitsreden in der Aula seiner Lehranstalt, wie zu Königs Geburtstag, oder zur 100jährigen Schillerfeier im November 1859 über Schiller als Jugend- und Volksdichter.

So reich nun auch das bürgerliche Berufsleben des energischen und gewissenhaften Mannes sich gestalten mochte, dennoch wird es durch sein Schachleben überstrahlt, zumal er die Geisteserholung des königlichen Spieles während seines ganzen Erdenwallens nicht nur wie einen zweiten Beruf, sondern zugleich mit überwältigenden internationalen Erfolgen gepflegt hat. Ueberall und jederzeit ist er auch in dieser Richtung seines Schaffens mit der ganzen Thatkraft und Schlagfertigkeit seines eigenartigen Wesens eingetreten, ja es ist in seiner Person der Geist des deutschen Schach, dessen Ruhm er zuerst gegenüber dem Auslande hoch emporhob, gleichsam zur Verkörperung gelangt. Dem Grundzuge seiner Natur getreu hat er mit vollem Lebensernst und mit unverwüstlicher Willenskraft eine Geistesthätigkeit geübt, welche doch auch ihm nur als eine Erholung neben seiner eigentlichen Berufsarbeit gelten konnte. So vermochte er denn auch der höheren Berufung, welche ihm zu Gunsten des Schach beschieden war, durch Erfüllung dreier Zwecke, worin sich seine schachliche Lebensaufgabe begreifen läßt, gerecht zu werden. A. hatte vor allem die Verwaltung der deutschen Schachpraxis seiner Zeit überkommen, insbesondere das Amt, die lebendige Ausübung des Spieles unter Rückbeziehung auf die Fortschritte der von ihm mit geförderten Theorie in frischem und wachsendem Flusse zu erhalten. In diesem Sinne hatte er fernerhin die deutsche Meisterschaft und das allgemeine Ansehen der deutschen Schachspielkunst bei allen öffentlichen Gelegenheiten im Inlande wie im Auslande zu vertreten. Endlich traf ihn die Sorge für Heranbildung eines tüchtigen Nachwuchses. Aus allen drei Bestrebungen aber ergab sich zuletzt noch eine besondere Obliegenheit für ihn, die Einsetzung seines vollen Schachansehens, um auch in seinem Vaterlande eine gemeinschaftliche Vereinigung aller strebsamen Schachkräfte für eine wohlorganisirte Förderung des Spieles unter dem Namen des deutschen Schachbundes ins Leben zu rufen. Nachdem diese mit seinem 50jährigen Schachjubiläum im J. 1877 erreichte Krönung seines Schachwirkens kurze Zeit vor seinem Ableben vollzogen worden, war die Erfüllung für ihn gekommen, und sein reiches Leben durfte sich zu Ende neigen.

Die ursprünglichen Anfänge der Schachthätigkeit des Meisters A. reichen in seine früheste Jugend zurück, da er schon als neunjähriger Knabe von dem eigenen Vater in die Grundzüge des Spieles eingeführt wurde. Mit seiner Schulausbildung fällt dann zugleich seine schachliche Lehrzeit zusammen. Hirschel’s deutscher „Greco“, Philidor’s und Allgaier’s Lehrbücher weihten den lernbegierigen [778] Jünger in die Geheimnisse der Schachkunde ein; sie legten in sein empfängliches Sinnen den Keim zum tieferen Verständniß für die eigenartigen Feinheiten des Bauernspieles wie der Figurenpartie. Eine praktische Bethätigung der aufgenommenen Lehren fand A. im schachlichen Umgange mit den Schulgenossen, später auch mit erfahrenen Schachkennern seiner Vaterstadt, sowie mit durchreisenden Schachgrößen aus Berlin, Wien und anderen Orten. Aber den wirksamsten Einfluß auf sein fortschreitendes Erstarken hatte doch die unausgesetzte eigene Beschäftigung mit dem Schach, namentlich durch das Nachspielen anerkannter Meisterpartien und durch deren scharfsinnige Zergliederung, was ihm während der freien Zeit seines akademischen Studiums Jahre hindurch vergönnt blieb. Auf solchem Wege lernte er die mannichfaltigste Behandlung des praktischen Spieles, die verschiedenartigsten Eröffnungsarten, Angriffs- und Vertheidigungswendungen, insbesondere die eigenthümlichen Feinheiten in Verwendung der einzelnen Figurenarten genauer würdigen. Das nächste Ergebniß dieser Erfahrungen faßte er noch als Student, von künstlerischer Gestaltungslust getrieben, in einer Reihe frei geschaffener Schachbildungen, sogen. künstlerischer Endspiele, zusammen, welche zum ersten Male im J. 1842 unter dem einfachen Titel „Sechzig Aufgaben für Schachspieler“ in die Oeffentlichkeit traten. Es ist ein untrügliches Kennzeichen des wahren Genies, daß es in seinem Schaffensgebiete bahnbrechend vorgeht, und den von A. schon in seinem mittleren Jünglingsalter herausgegebenen künstlichen Spielen ist der eigenartige Stempel jener höheren Originalität unauslöschlich aufgeprägt. Doch nicht nur in dem besonderen Gebiete des Aufgabenwesens begründen jene noch heute in ihrer Art mustergültigen Erzeugnisse einen hervorragenden Fortschritt von nachhaltiger Wirkung; sie bergen auch bereits den eigenthümlichen Doppelzug in der später noch bewußter herausgebildeten persönlichen Spielweise ihres Schöpfers, welche in unwiderstehlichem Drange mit ebenso energischer wie fernschauender Planlegung eine tief verborgene Anbahnung entscheidender Wendungen verbindet, hierbei das Nächste mit dem Weitesten verknüpft und über Geistesblitze gebietet, die über alle Grenzen hinausgehen. In der eigenen Praxis des Spieles überwog bei Meister A. freilich die rasch vordrängende mehr glänzende Angriffsweise, welche seiner energischen Natur gemäß ihn, wo es auf die Vertheidigung ankam, doch lieber den kühnen, wenn auch nicht immer glücklichen Gegenangriff von überraschender Wirkung auf den Gegner bevorzugen ließ, in dem Bewußtsein, daß ein Mißgriff in der Abwehr den Gegner zu Fall bringen müsse. Jedenfalls dankte A. diesem Hauptzuge seiner Spielbehandlung den gewaltigen Eindruck, welchen er gelegentlich seiner Rückkehr aus Pommern im Frühjahr 1851 bei den Schachfreunden in Berlin durch sein glanzvolles Spiel hervorrief. Von ihnen zum Vertreter der deutschen Schachkunst für das in London damals ausgeschriebene erste internationale Schachturnier bestellt, hat A. dieses Vertrauen mit großartigem Erfolge gerechtfertigt. Er erfocht, insbesondere durch seinen Sieg über den englischen Großmeister Staunton, in dem internationalen Geisterkampfe dem deutschen Namen einen Triumph, dessen hohe nationale Bedeutung in jener Zeit, die einer freieren Entfaltung des deutschen Geistes nur wenig förderlich war, nicht bloß von den Schachfreunden allein tief empfunden wurde. Später hat A. dann noch zwei Mal, bei den Weltturnieren zu London 1862 und zu Baden-Baden 1870 der deutschen Meisterschaft die Palme erstritten, das letzte Mal persönlich getragen von dem vollen Bewußtsein, daß in dem gleichzeitig entbrannten blutigen Völkerturnier die deutsche Kraft und Kriegskunst schließlich obsiegen werde. Unter den genannten drei Höhepunkten im Schachleben des Meisters A. wird aber stets der Triumph von 1851 voranstehen, welcher zuerst den Schimmer ausländischer Ueberlegenheit brechend das deutsche Selbstgefühl hoch emporhob und Anderssen’s [779] Namen über sein Sondergebiet hinaus mit dem unvergänglichen Zauber volksthümlichen Klanges umwoben hat. Fortan konnte sein festgegründetes Ansehen selbst durch einzelne zeitweise Niederlagen, wie sie das Schachglück keinem sterblichen Meister erspart, nicht mehr und zwar um so weniger erschüttert werden, als sie von A. meist nur durch zu weitgehende Combinationen veranlaßt waren, über welchen der Meister naheliegende aber entscheidende Kleinigkeiten übersehen hatte. In solchem Sinne läßt sich wohl der Ausgang seiner Begegnung mit Paul Morphy Ende 1858, mit Steinitz 1866 u. A., sowie sein geringeres Glück auf den Turnieren zu Manchester 1857, zu Wien 1873 und Paris 1878 richtiger würdigen. Im übrigen zeigte sich A. auch bei diesen wie bei anderen Gelegenheiten im ganzen als der geistig überlegene Schachdenker, welcher durch weit überwiegende Beginnkraft den Verlauf der ganzen Partie zu leiten, den Gegner mit sich fortzuziehen und dem Spiele den ihm selbst eigenen Charakter zu geben versteht. Besonders aber war diese überaus anregende Spielführung, welche den geschickten Pädagogen vom Fach nicht verkennen ließ, wohl geeignet, die Gegner zu schulen und zu tüchtigen Kräften heranzubilden, wie es vornehmlich die später zu eignem hohen Schachrufe gelangten Meister Dufresne, Mieses, Suhle-Neumann, Zukertort, Riemann, Rosanes und manche Andern erfahren haben. Im ernsteren Wettkampfe mit ihnen, sowie im Zusammentreffen bei größeren Turnieren hat A. in der Regel seine überlegene Meisterschaft behauptet. Es sei hier noch erwähnt, daß A., abgesehen von den schon genannten großen Turnieren im Auslande und außer seinen vielen Besuchen in Berlin und Leipzig, auch wiederholt in Köln und Paris verweilte, einmal (1861) die holländischen Schachkreise beehrte und seit 1868 auch die deutschen Schachcongresse durch seine Theilnahme verherrlichte, insbesondere am Rhein (1868 in Aachen, 1869 in Barmen, 1871 in Crefeld, 1878 in Frankfurt a. M., wo er seine letzten Partieen spielte), ferner in Hamburg 1869 und in Altona 1872, endlich zu Leipzig 1871, 1876 und 1877; in der Regel hat er bei diesen Gelegenheiten den ersten Preis erstritten. An den seit 1879 veranstalteten Turnieren des gesamten deutschen Schachbundes, welcher noch unter des großen Meisters Aegide gelegentlich des 50jährigen zu Leipzig mit großem Glanze gefeierten Schachjubiläums begründet wurde, hat A. sich nicht mehr betheiligen können. Denn schon im Frühjahr 1879 am 13. März überwältigte ihn mit dem letzten Matt der für uns alle unüberwindliche Gegner. Unübersehbar war das Geleite, welches dem Entschlafenen, nach einer Feierlichkeit im Trauerhause, zur letzten Ruhestätte auf dem „reformirten Friedhofe“ Breslaus folgte, gebildet aus dem Lehrercollegium des Friedrichs-Gymnasiums und aus sämmtlichen Schülern desselben, ferner aus zahlreichen Vereinsvertretern und persönlichen Freunden, auch aus Schachfreunden von Nah und Fern, die reiche Lorbeerkränze gewidmet hatten. Unverwelklich aber wird der Lorbeer grünen und das ehrenvolle Andenken blühen, welches sich der Verewigte nicht nur als Jugenderzieher, sondern auch in der Geschichte des Schach errungen und im Herzen aller wahren Freunde dieser Geisteserholung für alle Zeiten gesichert hat.